Topographie des Terrors

Die Deportation der Juden aus Berlin – auch ein Thema für den Anhalter Bahnhof und den Gleisdreieck-Park

von Helmut Mehnert

Alfred Gottwaldt, langjähriger leitender Mitarbeiter am Museum für Verkehr und Technik, hat ein neues Buch mit dem Titel „Mahnort Güterbahnhof Moabit“ herausgegeben und dazu inzwischen mehrere Lesungen veranstaltet. Am 2.3.2015 besuchte ich eine Lesung in der Dorotheenstädtischen Buchhandlung gegenüber dem Kriminalgericht Moabit am Ende der Turmstraße und musste dabei immer wieder auch an den Anhalter Bahnhof und das Gelände des heutigen Gleisdreieck-Parks denken, was ich hier etwas ausführlicher im Zusammenhang darstellen möchte.

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Alfred Gottwaldt, Mahnort Güterbahnhof Moabit, Die Deportation von Juden aus Berlin, Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin 2015

Nachdem Alfred Gottwaldt schon 2005 zusammen mit Diana Schulle die wichtigsten Daten über sämtliche „Judendeportationen aus dem Deutschen Reich 1941-1945“ mit der deutschen Reichsbahn ausführlich dokumentiert hat, klärt er jetzt genauer darüber auf, in welchem Umfang und von welchen sog. „Sammellagern“ aus die jüdischen Mitbürger durch die Straßen Berlins zu den Abgangsbahnhöfen Richtung Osten in Konzentrationslager oder gleich in den Tod geschickt wurden. In Moabit gibt es ja schon lange eine Tradition am Gedenktag des 9. November 1938 den Weg von der Gedenkstätte am Ort der ehemaligen Synagoge in der Levetzowstraße bis zum Standort des ehemaligen Güterbahnhofs an der Quitzowstraße gemeinsam und demonstrativ zu Fuß zurückzulegen, um deutlich zu machen, dass das Verschwinden dieser Mitbürger nicht etwa heimlich geschah, sondern vor aller Augen tagsüber und zu Fuß durch die Wohnstraßen der Stadt passierte. Gottwaldt ergänzte dieses Bild dahingehend, dass die Menschen zunächst, von Berliner Polizei eskortiert, sogar die 8 km von der Levetzowstraße bis zum Bahnhof Grunewald, wo sich jetzt das große Mahnmal der Deutschen Bahn am Gleis 17 befindet, zu Fuß zurücklegen mussten und dass das Militärgleis am Moabiter Güterbahnhof erst später zum Hauptabgangsbahnhof für diese Transporte geworden ist – vermutlich weil den Polizeikräften der Fußweg nach Grunewald zu anstrengend und mühsam war.

Die Ergebnisse der neuesten Untersuchungen über die Zahl der Deportationszüge aus Berlin belegen nun, dass die weitaus meisten jüdischen Menschen tatsächlich von Moabit aus abtransportiert wurden und nicht vom Bahnhof Grunewald. Ganz genaue Zahlen über alle diese mit der Deutschen Reichsbahn durchgeführten Transporte lassen sich leider nicht rekonstruieren, die Schätzungen für die Transporte ab Moabit liegen zwischen 27 000 und 32 000 Menschen, für den Bahnhof Grunewald zwischen 10 000 und 14 000 und noch einmal ca. 10 000 für den Anhalter Bahnhof. Insgesamt wird damit heute von 55 000 verschleppten und ganz überwiegend in den Tod getriebenen Berliner Juden ausgegangen. Die Straßen von Moabit waren damit aber auch nicht die einzigen, durch die diese Menschen zu den Bahnhöfen getrieben oder transportiert wurden, denn ab November 1942 wurde das Sammellager von der Levetzowstraße in die Große Hamburger Straße in das ehemalige jüdische Altersheim in Mitte verlegt.

Bezogen auf den Abgangsbahnhof Moabit ist noch zu bemerken, dass dort heute lediglich eine kleine Informationsstele am sogenannten „Zufuhrweg“ zur ehemaligen „Militär-Rampe“ an diese schändlichen Ereignisse erinnert. Es ist sonst nur noch ein ungepflegter Kopfsteinpflasterweg zusehen, der eingezwängt zwischen dem Hellweg-Baumarkt und dem Lidl-Parkplatz an der Quitzowstraße 18-20 übrig geblieben ist.

An die Transporte vom Anhalter Bahnhof, die ganz überwiegend nach Theresienstadt gingen und unter dem Namen „Alterstransporte“ bekannt sind, erinnert ebenfalls nur eine kleine Informationsstele, die am Rest des Eingangsportals des Bahnhofs am Askanischen Platz bzw. der Stresemannstraße aufgestellt wurde. Diese Transporte waren nicht so spektakulär, denn an diesem damals größten Reisebahnhof des europäischen Kontinents, von dem auch die Regierungszüge des Naziregimes an-und abfuhren, mussten diese Deportationen möglichst kaschiert werden. So wurden dort an den planmäßigen Frühzug nach Dresden zunächst nur ein oder zwei Wagen der dritten Klasse, der sogenannten Holzklasse, angehängt, in die die am Bahnsteig A wartenden jüdischen Mitbürger unter Bewachung einsteigen mussten. Theresienstadt galt ja zudem auch als Vorzeige-Ghetto, in dem die Juden scheinbar ein „angenehmes Leben“ mit eigenen Kultureinrichtungen führen konnten, wenn man der entsprechenden Propaganda glauben wollte. Aber für die allermeisten war es nur die Durchgangsstation, die in den systematisch herbeigeführten Tod führte.

Alfred Gottwaldt räumte auch mit dem Vorurteil auf, dass der Abtransport der jüdischen Mitbürger ganz überwiegend mit Güterwagen oder gar Viehwaggons durchgeführt worden sei – wie sie in Zusammenhang mit den Auschwitzberichten immer wieder gezeigt wurden -, meistens waren die Abgangszüge in Berlin tatsächlich diese Personenwagen dritter Klasse mit Holzsitzen, die die Reichsbahn in verhältnismäßig großer Zahl für diese Transporte zur Verfügung gestellt hat. Gottwaldt gab auch selbst zu, dass der im Museum für Verkehr und Technik als Ausstellungsobjekt für die Deportation der Juden aufgestellte Güterwagen aus heutiger Sicht nicht den richtigen Eindruck für diese abgehenden Transportzüge vermittelt.

Für mich ergibt sich aus diesen Informationen in Zusammenhang mit der Lesung von Alfred Gottwaldt die Anregung und meiner Meinung nach sogar der Bedarf, auch außerhalb der Museumsmauern und zusätzlich zu der kleinen Stele am Anhalter Personenbahnhof öffentlich an diesen dunklen Teil unserer Geschichte zu erinnern. Die jetzt zum Park gewordenen ehemaligen Gleisflächen des Anhalter Güterbahnhofs, eine der Yorckbrücken oder auch der Flaschenhals sind geeignete Ort, um für den heutigen Parkbenutzer diesen wichtigen historischen Bezug wiederherzustellen.

So kann das Bewusstsein dafür gestärkt werden, dass Deportation, Vertreibung und – bezogen auf die Gegenwart – Abschiebung, keine Ereignisse sind, die irgendwo weit weg und von niemandem bemerkt passieren, sondern immer mitten unter uns, im öffentlichen Raum beginnen und wahrgenommen werden können, wenn man die Augen nicht davor verschließt.

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Gleisplan, ca. 1905. Gelb markiert die Gleise, über die die Personenzüge vom Anhalter Personenbahnhof fuhren und die dann auch für die Deportationen genutzt wurden. Teilweise sind die Gleise noch vorhanden. Aus Sicht des heutigen Parkbesuchers würden sie liegen am östlichen Rand des Wäldchens im Ostpark, im Flaschenhals etwas östlich des heutigen Eingangs von der Yorckstraße und auf den Yorckbrücken zwischen diesen beiden Flächen. Zum Vergrößern auf den Plan klicken.

Wie erinnern?

Mit diesem Beitrag soll eine Debatte angestoßen werden, wie auf den Flächen des Gleisdreiecks in zeitgemäßer Form an die Deportationen erinnert werden kann. Auch als gestalteter Park bleibt das Gleisdreieck ein historischer Ort, der mit seinen Schienenwegen die Ausführung des Terrors der Menschenvernichtung ermöglichte.

In der Scobel-Sendung auf 3Sat am 22. 01. 15: Auschwitz – Zukunft der Erinnerung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz  spricht z.B. Michel Friedmann von den Anfangspunkten der Gewalt, von den Lokomotivführern, die ihre „Ware“ in die Konzentrationslager gefahren haben und nicht bemerken wollten, dass sie nie jemanden zurückbrachten. Es sollte bei der Erinnerung nicht nur immer wieder auf die Opfer geschaut werden, sondern auch auf den Beitrag derjenigen, die gar nicht wissen wollten, was sie da taten, ebenso wie auf die reibungslose Mitwirkung der Deutschen Reichsbahn bei der Durchführung der Transporte. Das sollte nicht nur im Museum versteckt werden . . .

http://youtu.be/SmS5wQJkChQ

Update 9. 03. 15

Dietlinde Peters, Der Anhalter Bahnhof als Deportationsbahnhof, Ein Bericht über die sogenannten Alterstransporte Berliner Juden nach Theresienstadt, 80 Seiten, 1. Auflage,  Berlin 2011, 8,50 €

2011 erschien im Verlag des Bezirksmuseums Friedrichshain-Kreuzberg

Der Anhalter Bahnhof als Deportationsbahnhof
Ein Bericht über die sogenannten Alterstransporte Berliner Juden nach Theresienstadt

Auf der Seite des Verlags heißt es:

Am 2. Juni 1942 fuhr der erste der so genannten Alterstransporte Berliner Juden vom Anhalter Bahnhof in Berlin-Kreuzberg nach Theresienstadt im heutigen Tschechien. 50 Menschen gehörten zu diesem ersten Transport in das Ghettolager, nur ein einziger sollte überleben.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verließen 116 Transporte mit über 9600 Menschen den Anhalter Bahnhof, einen der großen Berliner Personenbahnhöfe, von dem heute nur noch die Ruine des Portikus steht.
Die Transporte bestanden meist aus 50 oder 100 Personen. Auf dem Bahnsteig waren die meist älteren und alten Männer und Frauen in Kleidung und Gepäck kaum von den übrigen Reisenden zu unterscheiden. Man hatte sie mit der Straßenbahn oder dem Lastwagen frühmorgens zum Bahnhof gebracht. Für den Transport nach Theresienstadt wurden zwei Sonderwaggons 3. Klasse an den fahrplanmäßigen Personenzug nach Dresden bzw. Prag gehängt: Abfahrt 6.07 Uhr von Gleis 1.
Theresienstadt war ein „Transitlager“, eine Zwischenstation auf dem Weg in den Tod: Wer dort nicht an Krankheit und Entkräftung starb, wurde nach „Osten“ weiterdeportiert. Und dies bedeutete in der Regel: nach Auschwitz.

https://www.fhxb-museum.de/index.php?id=65

 

Helmut Mehnert – 6. 3. 2015

Helmut Mehnert zog in den 80er Jahren nach Berlin und wohnte zunächst in der Katzbachstraße. Von dort aus entdeckte er das verwilderte Bahngelände. Bis 1993, als die Baulogistik für den Potsdamer und Leipziger Platz das Gelände in Beschlag nahm, engagierte er sich für den „Naturpark Gleisdreieck“ wie er damals von den Aktivisten der AG Gleisdreieck genannt wurde.

Ein Kommentar zu “Die Deportation der Juden aus Berlin – auch ein Thema für den Anhalter Bahnhof und den Gleisdreieck-Park

  1. Sehr geehrter Herr Mehnert, ich habe mit allergrößtem Interesse Ihren Bericht gelesen. Er war mir sehr hilfreich! Denn ich schreibe gerade an einem Roman über eine Berliner jüdische Familie, die all diese Schrecken dieser Zeit durchlebte und im Frühjahr 1942 von der Sammelstelle Levetzowstraße aus nach Auschwitz deportiert wird. Ihrem aufschlussreichen Bericht zufolge weiß ich jetzt wie diese Fahrt verlief. (Ich bin ja keine Zeitzeugin!)
    Ich stimme Ihnen aus tiefstem Herzen zu, wenn Sie sagen, dass wir dafür verantwortlich sind dass diese Verbrechen nicht vergessen werden dürfen!
    Viel Erfolg bei Ihrer weiteren Arbeit daran grüße ich Sie herzlich.
    Rosi Schulz

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