120.000 m² Bruttogeschossfläche verteilt auf sieben bis zu 90 m hohe Häuser sollen auf dem schmalen Streifen errichtet werden, der vom U-Bahnhof Gleisdreieck bis zum Stellwerk auf dem Anhalter Güterbahnhof, dem heutigen Ostpark reicht. Erschlossen werden soll die Baustelle über die Schöneberger und Luckenwalder Straße, der südliche Teil über die Trebbiner Straße. Da der Verkehr auf den Straßen schon bei der jetzigen Nutzung oft kollabiert, gab es die Befürchtung, dass hier das berühmte Kamel durchs Nadelöhr geschickt werden soll. Entsprechend groß war die Neugier auf das lange Zeit unter Verschluss gehaltene Verkehrsgutachten.
Am Montag, den 4. 6. 18 im Vortragssaal des Deutschen Technikmuseums war es schließlich soweit. Es wurden Auszüge aus zwei Gutachten präsentiert, ein Verkehrsgutachten, das die spätere Nutzung behandelt und ein Baulogistikgutachten. Beide Gutachten kommen zu dem Schluss, dass die vorhandenen Straße den zusätzlichen Verkehr locker aufnehemen können.
Das Verkehrsgutachten des Büros Hoffmann und Leichter
Der Bestand wurde ermittelt durch eine Verkehrszählung am 22. 9. 2016. Danach fahren auf den Landwehrkanaluferstraßen jeweils knapp 30.000 Autos täglich. Befände sich nicht der Kanal zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen, müsste man die Werte zusammenrechnen. Dann würden die Kanaluferstraße mit knapp 60.000 mit zu den am meisten befahrenen Straßen Berlins zählen, vergleichbar mit der Leipziger Straße.
Von den 24-Stunden-Werten wurde dann die Werte für die Spitzen-Stunden abgeleitet, die zwischen 6% und 9% der Gesamtmenge liegen sollen. Die Folie 7/22 kam zweimal vor in dem Vortag, einmal wird der Spitzenstundenwert für die Schöneberger Straße mit 400 angegeben, einmal mit 500 Autos.
Sieht so aus, als sei man unentschieden gewesen, welchen Wert man darstellen wollte. Und dann ist eine der beiden Folien versehentlich in der Präsentation verblieben. In der später auf der Seite Urbane Mitte veröffentlichten Präsentation wurde dann die Nummerierung der Folien verändert, so dass die Seite 7 nicht mehr doppelt vorkommt.
Die Folien stehen als PDF zur Verfügung auf der Seite http://urbane-mitte.de/vorstellung-verkehrskonzept/
Der „Planfall“
Bei einer Realisierung des Projekts „Urbane Mitte“ seien laut Gutachter ca. 4700 zusätzliche KFZ-Fahrten pro Tag zu erwarten. Der Annahme liegt zugrunde ein Modal-Split, nach dem die Hälfte der Besucher als Fußgänger kommen, dazu 9000 per Bahn sowie 6200 per Fahrrad, jeweils auf 24 Stunden gerechnet.
Räumlich sollen von den 4700 KFZ-Fahrten 85% auf den Straßenzug der Schöneberger und Luckenwalder Straße entfallen, 15% auf die Trebbiner Straße.
Auf der Folie mit dem Titel „Zusätzliches Verkehrsaufkommen | Spitzenstunden“ wurde dann für die Schöneberger Straße der Wert von 120 bis 130 zusätzlichen Kfz-Fahren präsentiert, auf der Luckenwalder sollen es 50 bis 90 (welche Schwankung in der Prognose!) zusätzliche Fahrten werden, in der Trebbiner Straße sollen es 50 bis 60 sein.
Ein schneller Rechner im Publikum wies sofort auf den Widerspruch in den Zahlen hin. 4700 Fahrten, davon 85% räumlich der Schöneberger Straße zugeordnet, davon 6 Prozent auf die Spitzenstunde gerechnet macht 240 zusätzliche Fahrten, also ungefähr das Doppelte dessen, was der Verkehrsplaner präsentiert hatte. Bei bei 9% ergäben sich 360 zusätzliche Fahrten, also das Dreifache des präsentierten Wertes.
Die 240, bzw. 360 addieren sich zu den vorhanden Werten, die laut Präsentation zwischen 400 (auf Folie 7) und 500 (auf der zweiten Folie 7) in der Schöneberger Straße liegen.
Der Widerspruch konnte in der Veranstaltung nicht aufgelöst werden. Es handele sich um bereinigte Zahlen, die realen späteren Verkehre seien sowie weit niedriger als die jetzt laut Regelwerk angenommenen, bemerkte der Verkehrsplaner dazu.
Gleiches gilt im übrigen für die etwas weiter entfernt liegenden „Knotenpunkte“, also die Ampeln an den Kreuzungen Möckernstraße, Schöneberger und Dessauer Straße mit den Kanaluferstraßen, auf den täglich knapp 30.000 in jeder Richtung unterwegs sind. Drei bis 6 % zusätzlicher Verkehr soll an den Knotenpunkten entstehen. Schon jetzt sind diese Kontenpunkte hoch belastet – rein rechnerisch betrachtet. Glücklicherweise würden die Berliner jedoch an Ampeln mehr als in den Regelwerken der Verkehrsplaner vorgesehen aufs Gas drücken, also ordentlich beschleunigen, so dass das Problem nicht so gravierend sei. Die Ampelanlagen sein zudem veraltet. Mit einer verkehrsabhängigen Steuerung der Grünphasen können man hier noch einige Verbesserungen erreichen.
Baulogistik
Sich mit der Baulogistik zu beschäftigen erfolge normalerweise erst zu einem zu einem späteren Zeitpunkt der Planung, sagte der Ingenieur von der Firma LMBG. Ebenso wie der Verkehrsplaner gehen die Baulogistiker davon aus, dass die Straßen genügend Reserven für die Bauvorhaben bieten.
Zusammenfasst rechnen sie mit einem Baustellenverkehr 3 bis 7 KFZ/Stunde (je An- und Abfahrt) oder anders gesagt 6 LKW pro Stunde für den Bereich an der Schöneberger Straße, 3 LKW/Stunde für den südlichen Bereich, der über die Trebbiner Straße versorgt werden soll.
Wird man mit solchen Durchschnittswerten dem Vorhaben gerecht?
Für ein 90 m hohes Gebäude mit der Grundfläche von 50 x 50 m werden ca. 30.000 m³ Beton benötigt. Ein Betonmisch-LKW bringt 10 m³ Beton. Es wären also für das erste Hochhaus allein 3000 An- und Abfahrten von Betonmisch-LKWs notwendig, dazu kommen LKWs für den Erdaushub, die Anlieferung der Kräne, Container, Maschinen, der Bewehrung, später der Materialien für den Ausbau. Die Lieferungen verteilen sich nicht gleichmäßig über die Bauzeit, sondern in der Phase der Gründung wird viel mehr Transport benötigt als in den späteren Phasen. Doch so genau wollten es die Baulogistiker nicht darstellen . . .
Wichtig bleibt festzuhalten, dass erklärte wurde: Flächen des Parks sollen nicht für die Baustelle in Anspruch genommen werden, der Radweg bleibt erhalten und wird auf sechs Meter verbreitert. Es soll immer eine Querungsmöglichkeit vom Park zum U-Bahnhof Gleisdreieck geben.
Kein Wort wurde jedoch verloren über die anderen großen Bauvorhaben, die sich zeitlich und räumlich überschneiden mit dem Projekt Urbane Mitte: Der Neubau des Stahlviadukts der U1, der Bau der S-Bahnlinie S21 und der Bau der Stammbahn, der Regionalbahn nach Potsdam. Lediglich die S21 wurde am Anfang der Veranstaltung erwähnt. Da die Deutsche Bahn noch nicht soweit sei, sich zum Bauvorhaben äußern zu können, werde man den Bebauungsplan teilen und zuerst den südlichen Teil in Angriff nehmen.
Was passiert, wenn die STATION Veranstaltungen durchführt?
30 Tage im Jahr sei es zumutbar, dass Straßen nicht für den normalen Verkehr zur Verfügung stünden. Es gäbe eben Ereignisse, Beispiel „Berlin-Marathon“, bei denen alle anderen Nutzungsansprüche an die Straßen zurückstehen müssten. An Messe-Tagen würde sowie so gar nichts anderes mehr gehen, sagt der Verkehrsplaner vom Büro Hoffmann und Leichter. Nur: die Referenzen der Station lassen vermuten, dass es um mehr als 30 Tage geht, an denen der Verkehr zum Erliegen kommt. Allein die Premium-Modemesse dauert 5 Tage, dazu kommen zwei Wochen auf Auf- und Abbau. Und ob die Abstimmung mit den ausführenden Baufirmen tatsächlich klappt, dass eben zu bestimmten Zeiten kein Baustellenverkehr stattfinden kann, ist unklar. Damit es klappt, müsste im Durchführungsvertrag zum Bebauungsplan eine entsprechende Regelung festgeschrieben werden.
Verkehr ist gefährlich
Das jetzt schon vorhandende Chaos in der Schöneberger und Luckenwalder Straße ist gefährlich, für alle Verkehrsteilnehmer. Die Gefahr entsteht nicht nur durch die Anzahl der Fahrzeuge, sondern auch durch die Unübersichtlichkeit, durch fehlende Verkehrsregelungen wie z. B. Zebrastreifen, Poller, Ampeln, durch den Stress der Autofahrer, die gelegentlich nicht angemessen reagieren, wenn es nicht vorwärts geht. Aus dem Publikum heraus gab es mehrere Hinweise, dass dies besonders für Kinder gefährlich sei. Dr. Vogel von der Copro reagierte mit Unverständnis, seine Kinder würde er da nicht frei herumlaufen lassen. Auch der Baustadtrat Florian Schmidt konnte mit dem Thema schlecht umgehen. 10 Betonmisch-LKWs seien per se nicht gefährlicher als einer. Vielleicht sei sogar ein einzelner LKW gefährlicher, weil man mit dem nicht so rechne. Dabei belegt jede Unfallstatistik den Zusammenhang zwischen Anzahl der KFZ und Anzahl der Unfälle. Die Statistiken – über die Jahre hinweg betrachtet – zeigen, dass Verkehrsregelungen Sinn machen, dass durch Geschwindkeitsbegrenzungen, Zebrastreifen, bessere Technik, Reduzierung der Anzahl der Kfz. usw. die Anzahl der Unfälle sinkt. Fatalismus ist hier fehl am Platz.
Die Brücke zwischen Gleisdreieck und Potsdamer Platz
Wegen des gefährlichen Übergangs vom Gleisdreieck Richtung Potsdamer Platz kam auch das Thema der Brücke für Fußgänger und Radfahrer auf, die 1995 in den Bebauungsplänen Potsdamer und Leipziger Platz als Teil der ökologischen Ausgleichsmassnahmen vorgesehen war. Mit der Brücke sollte der Ort des „Eingriffs“ mit dem Ort des „Ausgleichs“ verbunden werden.
2006 gab es einen Wettbewerb (https://www.competitionline.com/de/ergebnisse/4649) zur Realisierung der Brücke, die jedoch keine kreuzungsfreie Verbindung zwischen den beiden Parks ermöglicht hätte. Geplant wurde eine Brücke nur über den Kanal. Fußgänger hätten vom Gleisdreieck dreimal an Ampeln warten müssen, einmal an der Flottwellstraße, dann zwischen Karlsbad und südlichen Kanalufer, dann nochmal am nördlichen Kanalufer. Die geplante Brücke stelle keine wesentliche Verbesserung dar gegenüber dem vorhandenen Übergang Dessauer Brücke, gab die Stiftung Naturschutz zu Bedenken. Deswegen wurde bisher nichts gebaut und die für die Brücke vorgesehenen 2,5 Mio. € liegen bis heute noch auf einem Konto der Stiftung Naturschutz.
Wenn das Projekt Urbane Mitte etwas Gutes hat, dann vielleicht dies, dass die Diskussion um die Brücke wieder in Gang kommt. Der Baustadtrat Florian Schmidt sagte auf der Veranstaltung zu, sich des Themas anzunehmen. Wird auch höchste Zeit. Denn in den städtebaulichen Verträgen zum Potsdamer und Leipziger Platz ist vorgesehen, dass die Gelder für den ökologischen Ausgleich, die nicht bis zum 31. 12. 2020 vom Konto der Stiftung Naturschutz abgerufen werden, dann endgültig ins Vermögen der Stiftung übergehen, das heißt für andere Zwecke der Stiftung ausgegeben werden können.
Fazit
Die Einschätzungen der Verkehrsplaner und Baulogistiker über die Leistungsfähigkeit der Anliegerstraßen widersprechen fundamental den Erfahrungen, die jeder normale Nutzer dort Tag für Tag macht. Ursache sind möglicherweise die hier nicht zutreffenden theoretischen Annahmen der Planer sowie die mangelhafte Methodik zur Einschätzung von Extremsituationen. Möglicherweise spielt auch eine Rolle, wer der Auftraggeber der Gutachten ist. Völlig übertrieben betonte Dr. Vogel immer wieder, dass der Bezirk der Auftraggeber der Gutachten sei und dass nur der Bezirk entscheiden könne, die Gutachten zu veröffentlichen. Der Baustadtrat hat nun zugesagt, die Gutachten demnächst veröffentlichen zu lassen. Auffällig war zudem auch, dass Herr Dr. Vogel als Vertreter Copro im Laufe des Abends immer wieder versuchte, dem Bausstadtrat die Moderatorenrolle streitig zu machen und dass dieser sich kaum dagegen wehrte.
Die kritische Durchsicht der Gutachten sollte der nächste Schritt sein, denn das, was am 4. 06. 2018 präsentiert wurde, waren ausgewählte, bereinigte Daten.