In einem offenen Brief wendet sich Jürgen Enkemann vom „Kreuzberger Horn“ gegen einen möglichen Abriss des alten Zollpackhofes an der Ecke Yorckstaße / Möckernstraße. Hintergrund sind die internen Diskussionen innerhalb der Initiative Möckernkiez. Ursprünglich wollte die Initiative den Zollpackhof als Teil des „Stadtgedächtnisses“ in ihr Projekt mit rund 400 Wohnungen und Gewerbeflächen integrieren.
Dazu wurde eine Planung ausgearbeitet, die vorsah, den Zollpack zu modernisieren und mit drei weiteren Geschossen zu überbauen. Dabei stellte sich jedoch heraus, dass durch die komplizierte Bebauung des alten Gebäudes die Baukosten explodieren würden und damit auch die zukünftigen Mieten in dem neuen Stadtteil. Nun gibt es zwei Alternativen, die innerhalb des Projekts Möckernkiez diskutiert werden:
- den alten Zollpackhof so stehen lassen und nur das dahinter liegende Gelände bebauen
- oder den Zollpackhof abreißen und etwas Neues bauen.
Beide Lösungsmöglichkeiten stellen das in jahrelanger Arbeit entwickelte städtebauliche Konzept des Möckernkiezes in Frage, erfordern eigentlich ein neues städtebauliches Konzept. Aus dem Bezirksamt ist zu hören, dass der Teilbebauungsplan Möckernkiez zur Zeit auf Eis liegt. Offensichtlich ist der im Februar 2011 von der Bezirksverordnetenversammlung “zur Kenntnis genommene” Teilbebauungsplan in großen Teilen schon wieder Makulatur. Interessant ist auch die Begründung des Bezirksamtes, warum dieser Teilbebauungsplan nie öffentlich ausgelegt wurde, wie es das Baugesetzbuch eigentlich vorsieht. „Alle grundsätzlichen Fragen der Bebauung” seien schon 2006 im Generalbebauungsplan Gleisdreieck geklärt worden, hieß es dazu in diesem Sommer vom Stadtplanungsamt. 2006 hatte dasselbe Amt als Antwort auf die Stellungnahmen zum B’Plan Gleisdreieck geschrieben, Fragen wie der Umgang mit dem Zollpackhof und der Durchwegung des Baufelds Möckernkiez würden im späteren Teilbebauungsplan geklärt. OK, eventuell werden sie nun geklärt, aber nicht in einem öffentlichen Beteiligungsverfahren. Dies ist der Hintergrund, vor dem Jürgen Enkemann vom Kreuzberger Horn den offenen Brief an Aino Simon vom Vorstand der Möckernkiezbaugenossenschaft geschrieben hat.
Matthias Bauer
Offener Brief von Jürgen Enkemann an Aino Simon, Initiative Möckernkiez
(Ich betrachte dieses an Aino Simon addressierte Schreiben, wie ich ihr mitgeteilt haben, als ‘offenen Brief’, der auch im Umkreis von ‘Kreuzberger Horn’-Initiative und Gleisdreiecks AG versandt wurde. Jürgen Enkemann)
Liebe Aino Simon,
Dein Vortrag neulich auf der Veranstaltung im Rathaus zum Möckernkiez-Projekt war überzeugend, und Du hast auch bestimmte Bezüge, die nicht nur Euer eigenes Zusammenwohnen in dem Komplex betreffen, hervorgehoben: die Beziehung zur Nachbarschaft drum herum (z.B. mit dem zur Verfügung Stellen bestimmter Gemeinschaftsräume etc), zur Natur (dazu gibt es demnächst ja auch eine öffentlich angekündigte gemeinschaftliche Pflanzaktion). Wenn mir eine Dimension gefehlt hat – ich will nicht unterstellen, dass sie Dich nicht interessiert, und man kann auch nicht immer alles in einem Vortrag bringen – dann ist es der Bezug zur Geschichte der Umgebung.
Diese Leerstelle erschien dann noch betont dadurch, dass Du mit einem Hessel-Zitat den Begriff ‘Wandel’ ganz groß hervorgehoben und sogar als Losung auf die Leinwand projiziert hast. Dass mir das im Moment so wichtig erscheint, hat einen konkreten Anlass, aber ich will doch erst noch ein paar allgemeinere Reflektionen dazu hier vorbringen. Natürlich ist es wichtig, dass wir uns für den Wandel in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen stark machen, und ich würde selber von mir behaupten, dass ich mich immer für den Wandel engagiert habe, wenn es dabei um Verbesserung von Lebensbedingungen ging und um die Aufhebung von überkommenden Hierarchien und Klassenunterschieden, um emanzipatorischen Wandel. Aber Wandel ohne das Ernstnehmen auch von Kontinuitäten ist zumeist schlecht fundiert, kann sehr einseitig sein, oberflächlich und in der Politik manchmal äußerst zerstörerisch. Mir erscheint es gerade im Hinblick auf einen zu erringenden grundlegenden ‘Wandel’ wichtig, dass wir uns ständig des historischen Gewordenseins unserer weiteren gesellschaftlichen Zusammenhänge wie auch unserer unmittelbaren Umgebung bewusst sind.
Um zunächst noch einmal auf Franz Hessel zurück zu kommen, der in unserer gemeinsamen ‘Kiezwoche’ bei Euch im Möckernkiez-Verein in Form von Lesungen eine besondere Rolle gespielt hat: Ihn faszinierten die gewaltigen Veränderungen in der hektischen Metropole der Zwanziger Jahre, aber er versuchte im Rahmen seiner Beobachtungen in der Stadt immer auch, die Geschichte dahinter aufscheinen zu lassen, soweit überhaupt noch Spuren davon sichtbar waren, und er bedauerte deren Verschwinden hier und da. Wandel war für ihn nicht immer nur begrüßenswert. Im Kapitel ‘Der Landwehrkanal’ in seinem Büchlein ‘Spaziergänge in Berlin’ lautet der letzte Satz: “Man behauptet, der Landwehrkanal soll auch bald trockengelegt werden, er rentiere sich nicht mehr. Dann würde uns wieder ein Stück Leben zu blasser Erinnerung werden.“
In Berlin war man schon immer besonders schnell dabei, die Spuren der Geschichte restlos verschwinden zu lassen, aber in kaum einer Zeit wohl so intensiv wie in den späten 50er und den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. (Das gehörte allerdings in der gesamten Bundesrepublik in gewissen Graden zum Zeitgeist). “Abriss! Abriss!” war angesagt, nur das Neue begeisterte, das belebte natürlich auch die Konjunktur in der ‘Wirtschaftswunder’-Epoche. Zu den Opfern zählte u.a. die riesige, abgesehen vom Dach noch weitgehend erhaltene Ruine des Anhalter Bahnhofs, und damit sind wir schon bei unserem konkreteren Thema, denn es geht mir in unserem Dialog um ein Bestandteil des ehemaligen Anhalter Bahnhofsgeländes. Zum Zeitpunkt des Abrisses der großen Halle fanden sich nur wenige Stimmen für den Erhalt (einige aber durchaus schon). Der große Umschwung sowie die heftige Kritik an der ‘zweiten Zerstörung’ Berlins nach der Kriegszerstörung ergaben sich erst in den achtziger Jahren. Der Abriss des Bahnhofs, besonders vehement vorangetrieben durch den früheren Kreuzberger Bürgermeister Kressmann, wurde dann rückblickend allgemein verurteilt. Mir fiel zufällig gerade ein alter Artikel aus dem Tagesspiegel (vom 19.6.1987) in die Hände, in dem es in einer kritischen Rezension zur großen postmodernen ‘Mythos Berlin’-Ausstellung auf dem öden Gelände des vormaligen Anhalter Bahnhofsgebäudes heißt: “Auch dessen Schicksal ist ja ein Spiegelbild Berliner Seelenzustände: als die Züge längst nicht mehr fuhren, geisterten Hauptstadtwettbewerbe durch Amtsstuben und Stadtplanungsbüros, die den Abbruch dieser Kathedrale des Industriezeitalters angeblich dringend erforderlich machten. Keine Zeit verlieren!“ Und am Schluss des Artikels heißt es dann noch einmal beim Anblick der Miniruine inmitten einer Brache: “Kaum noch sieht man den Portikus, den die Abrisswut stehen ließ, diesen winzigen Rest. Angetrieben wurde das Zerstörungswerk von einem Bezirksbürgermeister, der stolz den Spitznamen Texas-Willy trug, in den Jahren, als die Eröffnung der ersten Stadtautobahnteile ungehemmten Schnellverkehr versprach … “.
Und da wir mal beim Anhalter Bahnhof sind, möchte ich zusätzlich ein paar Sätze aus einem immer noch sehr informativen und lesenwerten Buch mit dem Titel ‘Berlin, Anhalter Bahnhof’ aus den achtziger Jahren zitieren. Der Verfasser Peter G. Kliem fordert in seinen allgemeiner gehaltenen Schlussgedanken, die Stadtplaner des Senats sollten nach den Zerstörungen der jüngeren Zeit “bemüht sein, wenigstens von sofort an jedes noch so bescheidene Stückchen des alten Berlin vollständig zu restaurieren.“ (S. 89). Und weiter: “In Berlin wirkt seit Jahren offensichtlich eine unsichtbare Macht, die jeden geschichtlichen Ursprung und alle Erinnerung an ein in vieler Hinsicht in der ganzen Welt bekanntes und geschätztes Berlin ausräumen will. Diese Tendenz zur städtebaulichen Einöde, zur verkehrsgerechten Rasterlandschaft und zur wohnarithmethischen Trostlosigkeit muss letzten Endes auch zur Kulturlosigkeit führen. Natürlich gibt es in der Stadtkultur und Architekturästhetik keine absoluten Normen, und nicht immer muss das Alte auch das Gute sein. Bei der Beurteilung der unterschiedlichen Fakten kommen eine Menge von Gesichtspunkten zusammen. … Aber alle Erkenntnisse auf diesem Gebiet sind schwer messbar, von häufig wechselnden Meinungen abhängig, die getroffenen Entscheidungen sind fast immer umstritten und so gut wie nicht auf ihre Richtigkeit nachprüfbar. In der Bevölkerung, und hier insbesondere bei den jüngeren Bürgern, nimmt aber die Trauer über die Zerstörung der Stadt auffallend zu.“ … “Die Zukunftserwartungen können nur aus der Kenntnis der eigenen Geschichte heraus formuliert werden. Aber Geschichte will erlebt sein: Nicht in großen dafür hergerichteten Museen, Geschichte erlebt, wer durch die historischen Räume eines alten Schlosses geht oder durch die teilweise restaurierten Straßen Kreuzbergs mit ihren Stuckfassaden der Gründerzeit, den alten Straßenlaternen, Bänken, Pumpen und Vorgärten, eingezäunt von schmiedeeisernen Zäunen. Berlin ist als Ganzes ein Ort der Geschichte, ein Ort an dem deutsche Vergangenheit und Gegenwart wie nirgendwo sonst mit ihren tiefen Brüchen und den offenen Fragen nach der Zukunft erlebt werden kann.“ (S. 90)
Peter G. Kliem / Klaus Noack: Berlin, Anhalter Bahnhof, Frankf./ M. und Berlin (Ullstein) 1984.
Um diese Zeit, also in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, hatte sich allerdings seit einer Weile vielfach ein neues historisches Bewusstein durchgesetzt, in der Tat selbst bei ganz jungen Leuten, den Hausbesetzern, die sich dem verbreiteten Abriss sehr wirksam entgegensetzten und letztlich das erkämpften, was ‘Behutsame Stadterneuerung’ genannt wurde. Ein Einzelname verbindet sich besonders mit dieser neuen Richtung in den achtziger Jahren, der von Hardt-Waltherr Hämer (in Kreuzberg zumeist Gustav Hämer genannt). Ich möchte hier daher aus einem Buch über ihn zitieren: “Zum Perspektivenwechsel aus der ‘Planung von oben’ zum Blick aus der Position der Betroffenen, zur Parteinahme ihrer Interessen, kam der Abschied von der bislang unbefragten Überzeugung, dass das jeweils Neueste auch stets das Bessere sei.”
Aus: Manfred Sack (hrsg.): Stadt im Kopf. Hardt-Waltherr Hämer, Berlin 2002 (Jovis Verlag) S. 15
Wie es der Zufall nun will in unserem Argumentationszusammenhang, stammte von dem Architekten des Anhalter Bahnhofs, Schwechten, auch der Entwurf für die Gedächtniskirche. Der Architekt des Neubaus Ende der 50er/ Anfang der 60er Jahre, Eiermann, wollte zunächst den völligen Abriss der
Kirchenruine. Der Protest aus der Bevölkerung heraus war jedoch so groß, dass es zu der interessanten Kombination von Neu und Alt kam und damit auch zu der Erinnerung an die Kriegszerstörung. In dieser Form wurde der Bau dann zu einem der eindrucksvollsten Wahrzeichen Berlins, und der Architekt wird die glorreiche Idee später nicht bereut haben.
In einem Lokal fand ich soeben die neue Ausgabe der Kreuzberger Chronik mit einem sehr kritischen, wenn nicht teilweise gar feindseligen Artikel über Euer ‘Möckernkiez’-Projekt. Ich teile die Ansicht nicht, aber erwähnenswert ist doch, dass als Hauptillustration zu dem Artikel ein Foto mit besagten alten Gewerbegebäuden abgedruckt ist und mit der Bildunterschrift: “Auch der Zollpackhof wird den Neubauten weichen.“ Im Artikel selber wird der erwartete Abriss dann noch einmal kritisch erwähnt. Mit dieser ablehnenden öffentlichen Reaktion muss im Falle der Beseitigung gerechnet werden.
Du hattest in Deinem Vortrag im Rathaus gesagt, dass über Abriss oder andererseits architektonische Einbeziehung in den Komplex noch nicht endgültig entschieden sei. Ich weiß nicht, wie weit die Diskussion inzwischen gediehen ist, aber aus meiner Sicht – und diese Meinung teile ich mit mehreren anderen vom Kreuzberger Horn-Kreis, wie unsere Diskussion beim monatlichen Treffen im Lokal Sieben Stufen zeigte – wäre es wichtig, dass die alte Anlage in irgendeiner Form erhalten bleibt. Es lässt sich sicherlich argumentieren, dass diese Gebäude und diese nicht gerade prächtige Rampe nun mal nicht das einstige Bahnhofsgebäude oder gar die Gedächtniskirche sind, und die ursprüngliche Form hat sich in der Zwischenzeit verändert, aber der Erhalt könnte dennoch eine wichtige Zeichensetzung für die Wahrnehmung auch der Geschichte des Umfeldes sein. Der gesamte Gebäudekomplex erhielte in seinem Äußeren eine zusätzliche Bedeutung in Richtung Stadtgedächtnis, denn Architektur wird immer auch als symbolisch wahrgenommen. Der Abriss andererseits würde sicherlich auch weiterhin kommentiert, zumal er bereits in die öffentliche Diskussion geraten ist, und spätere Verurteilungen wie im Falles des Anhalter Bahnhofs ließen sich ersparen.
Soweit meine Gedanken dazu. Vielleicht können sie zusammen mit anderen Meinungsäußerungen ein Impuls bei der Entscheidungsfindung sein.
Mit besten Grüßen von Jürgen E.